IRENE

Beitrag für das Theaterszene-Jahrbuch Köln, 2002

Als ich Irene das erste Mal gegenüberstand und ihr die Hand zur Begrüßung rei­chen wollte, drängte mich unser Regisseur dazu, keine Zeit mit Höflichkeitsbe­kun­dungen zu vertrödeln, sondern rasch unter ihrem Rock zu verschwinden. Wenige Stunden zuvor war ich in einer hessischen Kleinstadt angekommen, an deren Theater ich kurzfristig die Rolle eines erkrankten Kollegen in einem historischen Drama über­nehmen sollte. Jetzt kauerte ich in völliger Dunkelheit unter dem pflau­men­­farbenen Reifrock einer Schauspielerin, von der ich nicht mehr als ihren Na­men wusste, blickte mich um und dachte: »Von allen Berufen ist der des Schauspielers ohne Zweifel einer der ungewöhnlichsten. Wie schnell man sich nahe kommt. Noch habe ich kein einziges Wort mit meiner neuen Kollegin gewechselt, aber ich weiß schon, wie es unter ihrem Rock aussieht.«

Im Verlauf der Probenzeit bot sich mir die Gelegenheit, auch andere Seiten von Irene kennen zu lernen, wobei ich mit Vergnügen feststellen konnte, dass sie viele meiner Ansichten teilte. Das Stück war lächerlich, der Regisseur unfähig, die Kollegen waren Dilettanten. Unsere gemeinsame Haltung verbargen wir nicht etwa, sondern trugen sie im Gegenteil offen zur Schau. Noch nie zuvor habe ich mir innerhalb eines so kurzen Zeitraums so viele Feinde gemacht. Aber das kümmerte mich nicht. Zwischen Irene und mir war es eine ausgemachte Sache, dass wir Freunde fürs Leben geworden waren. Als die Aufführung von Pub­likum und Presse gleichermaßen abgelehnt wur­de, rech­net­en wir uns diesen Misserfolg als persönlichen Triumph an, weil wir unsere schlim­msten Prophezeiungen bestä­tigt fanden.

Wir spielten nur wenige Vorstellungen. Irene erhielt das Angebot eines großen Theaters und war überrascht, wie gern der Intendant sie aus dem Vertrag entließ. Erst als sie nicht mehr im Ensemble war, wurde mir mein erschreckender Mangel an Beliebtheit im Kollegenkreis bewusst. In der Kantine setzte sich niemand an meinen Tisch. Den Rest der Spielzeit versuchte ich, mich bei meinen Kollegen wieder einzuschmeicheln. Ohne Erfolg. Am Ende der Saison kündigte ich meinen Vertrag und beschloss, fortan Stücke zu schreiben.

Wenn ich seither meine Entscheidung, nicht mehr als Schauspieler zu arbeiten, be­dauert habe, dann einzig aus dem Grund, dass ich nie mehr Gelegenheit haben sollte, gemeinsam mit Irene auf einer Bühne stehen zu dürfen. Die Verpflichtungen, die Irenes wachsender Erfolg mit sich brach­te, machten Begegnungen zwischen uns immer seltener. Aber selbst wäh­­rend kurzer, sehnsüchtig erwarteter Treffen erkannten wir nach we­nig­en Min­uten – nicht zuletzt an dem Unbehagen, das wir bei unseren üb­rigen Freund­en auslösten, die alle behaupteten, sich in un­ser­er Ge­sell­schaft voll­kom­men ausgeschlossen zu fühlen – wie tief und eng un­sere Freund­schaft immer noch war.

Erst viele Jahre später kam es dazu, dass wir wieder in der­selben Stadt lebten und uns sehen konnten, so oft wir wollten. Schon am ersten Abend versicherten wir uns dieser tiefen Freund­schaft als eine der seltenen Glücksfälle des Lebens. Um diesem schönen Gedanken auch in der Realität einen angemessenen Aus­druck zu geben, fass­ten wir den Ent­schluss, wieder gemeinsam am Theater zu ar­beiten: Irene wür­de un­ter meiner Re­gie eine Rolle in meinem neuesten Stück übernehmen. In un­ser­er Begeisterung waren wir vom Ge­lingen dieser Aufführung derartig über­zeugt, dass uns schon beim Gedanken daran, unweigerlich werde es einmal eine letzte Vorstellung dieses Stücks geben, das wir noch nicht einmal zu pro­ben be­gon­nen hatten, bereits die Tränen in den Au­gen standen.

Irene besetzte ihre beste Freundin mit der anderen weiblichen Rolle meines Stückes und gewann für die männliche Hauptrolle einen Filmschauspieler, dessen Popularität unserem Unternehmen die Unterstützung eines nicht unbedeutenden Theaters in der Stadt sicherte. Premiere war für Ende Herbst geplant. Es fehlte nur noch ein letzter Schauspieler.

Die Überlegungen, die mit der Besetzung der letzten männlichen Rolle verbun­den waren, zogen sich unerwartet lange hin, was nur zum Teil auf die Tat­sache zu­rückzuführen war, dass zwei weitere Schauspieler mit Leidenschaft auf die Be­­setzung Einfluss zu nehmen verlangten. Vielmehr glaubte ich in Irenes rein gefühlsmäßiger Ablehnung gegenüber allen von mir vor­­ge­schla­gen­­en Kandidaten eine Haltung zu erkennen, die mir bis­her völ­­lig verborgen war. Als Irene ihre Zweifel an meiner Fähigkeit, Schauspieler und deren Qualitä­ten beurteilen zu können, zwar vorsichtig, aber öffentlich aussprach, machte ich ihre Unentschlossenheit dafür verantwortlich, dass wir uns bisher auf keinen einzigen Kandidaten hatten einigen können. Das war unser erster Streit. Am selben Abend versöhnten wir uns wieder und schworen uns, nicht eher mit den Proben zu beginnen, bevor wir nicht einen Schauspieler ge­fun­den hat­ten, der uns beide gleichermaßen überzeugen konnte. Zu einem Zeitpunkt also, den wir ursprünglich dafür vorgesehen hatten, uns von den Beifalls­stür­men ein­es begeistert applaudierenden Publikums zum wiederholten Mal vor den Vor­hang ru­fen zu lassen, war es Irene und mir lediglich gelungen, unsere künf­­tigen Rol­­len in dem bevorstehenden Probenszenario in skizzenhafter Form vor Au­gen zu führen.

Für die Besetzung der letzte Rolle eröffnete Irenes Freundin ein völlig neu­es Feld von Kandidaten, indem sie einige ihrer ehema­ligen Liebhaber aus dem Thea­termilieu ins Spiel brachte. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass Irene auf diesem Gebiet mit ihr konkurrieren kon­nte und nur all­zu gerne dazu be­reit war. Kurz, wir veran­stal­teten den ganzen Winter über Pro­be­lesen mit Schauspielern aus Deutsch­land, Österreich und der Schweiz. So­gar aus Ungarn hatten wir einen Kollegen zu Gast, der nach Meinung der beiden Damen sich aus rein optischen Gründen für die Rolle empfahl wie kein anderer, sich aber durch mangelnde Sprachkenntnisse von selbst disqualifizierte. Als es lang­sam Früh­ling wurde, empfahl ich vorsichtig einen Kandidaten, den alle kannten, der mit dem Inhalt des Stücks gut vertraut war, begabt, charmant und gut aus­seh­end – näm­lich mich selbst.
Stille.
Irene lachte knapp. Ich sagte schnell: »Das war natürlich nur ein Witz!« Insgeheim aber dachte ich über Möglichkeiten nach, wie ich Irene im Laufe der Probenarbeit demütigen könnte.

Erst drei Tage vor Probenbeginn einigten wir uns endlich auf einen Schau­spieler aus Wien, der weder mich noch Irene überzeugt hatte. Wenigstens waren wir uns in diesem Punkt völlig einig. Die Proben begannen. Am Ende der ersten Woche hatte Irene die weiblichen Rollen getauscht, die Kostüme geändert, sich mit ihren Kollegen in Farbe für die Presse fotografieren lassen und einen DJ für die Premierenfeier engagiert. Am Ende der zweiten Probenwoche hatte ich die beiden männlichen Rollen getauscht, Irenes Kostümvorschläge verworfen und neue farbige Pressefotos herstellen lassen – wegen der neuen Kostüme. Während der dritten Probenwoche gelang es uns nicht mehr, ein unverfängliches Ge­spräch zu führen. Stillstand. Möglicherweise waren die von mir eingeschlagenen Wege zu proben tatsächlich falsch, wie Irene nicht müde wurde zu be­haup­ten, aber immerhin bewegten wir uns, wenn auch in die ver­kehr­te Richtung. Irene dagegen zauderte, klagte, argumentierte, änderte ständig ihr Kostüm, feilschte um einzelne Worte im Text, mischte sich in die Rol­leninterpretation der Kollegen ein und ver­stand irgendwann das ge­samte Stück nicht mehr: »Ich würde mich niemals so verhalten wie die Figuren in diesem Stück.«
»Mag sein«, antwortete ich knapp, »aber schließlich erzählen wir hier nicht deine Geschichte, sondern die von Menschen, die … «
»Ja, genau, lass uns einmal über die Menschen in deinem Stück sprechen«, unterbrach mich Irene und blickte ihre Kollegen triumphierend an, »das sind jämmerliche Figuren, sie schwimmen in Selbstmitleid, ärgern sich über Kleinigkeiten, aber keiner von ihnen hat den Mut, irgendetwas zu ändern, auch auf die Gefahr hin zu scheitern, diese Leute sind so klein, so grau, so belanglos, warum machen deine Figuren nicht einmal etwas Außergewöhnliches?«
Ich forderte Irene auf, uns zu erzählen, wann sie zuletzt etwas Außergewöhnliches getan habe, und bat sie gleichzeitig darum, nicht auf ihre letzten Erfolg als Jeanne d’Arc zu sprechen zu kommen.
Tränen. Toben. Türenknallen. Zwei Tage probenfrei.

Als ich das Stück geschrieben hatte, war ich von Situationen ausgegangen, von denen ich angenommen hatte, dass ich mich ihnen nie persönlich aussetzen müsste. Was Irene und ich uns gegenseitig zumuteten, übertraf alles, was ich mir hatte vorstellen können. Irgendwann sa­hen sich die anderen Schau­spie­ler gezwungen, eindeutig Position zu beziehen. Irenes Freundin schlug sich überraschend auf meine Seite und beschädigte mit diesem Schritt die Freund­schaft zu ihr so nachhaltig, dass beide selbst heute noch nicht unverfänglich miteinander verkehren können. Der Filmschauspieler stand Irene bei. Zwei zu zwei. Jetzt kam alles auf die Stimme des Schauspielers aus Wien an. »Ich mache grundsätzlich alles«, sagte er in seinem Heimatdialekt, »was ein Regisseur von mir verlangt.« Dieser verhältnismäßig matte Bei­trag wirkte wie ein Stromschlag auf Irene und löste eine mehrtägige Debatte über das Ver­hältnis zwi­schen Regie und Schauspiel aus, an deren Ende die Schauspieler begeistert Irenes Idee aufgriffen, die Rollen durch Tierimprovisationen auszuloten. Meine Aufgabe als Regisseur be­schränkte sich jetzt da­rauf, die Elemente in den Raum zu rufen, in denen sich die von den Schau­spie­lern ver­körperten Tiere bewegten: »Wasser! Luft! Land!« Aus meinen Augen­win­keln heraus beobachtete ich, wie die Dramaturgin leise den Raum verließ, um nie mehr zurückzukehren.

Um den näher rückenden Premierentermin nicht zu gefährden, hatten die ander­en Schauspieler ein kompliziertes Sicherheitssystem entwickelt, das eine Be­geg­­nung zwischen Irene und mir ohne eine dritte Person unmöglich machen sollte. Eines Morgens betrat ich zu früh die Probebühne. Irene saß am Regietisch und zeichnete neue Kostüme. Ich ging langsam auf sie zu und sah auf ihre Zeichnungen. Nach ihrer letzten erfolgreichen Premiere in einem Stück von Schiller hatte sie mir folgendes gesagt: »Als Schauspieler hat man ständig Angst. Angst, dass man keine Rolle bekommt. Wenn man besetzt wird, hat man Angst, die Rolle nicht bewältigen zu können. Man hat Angst vor dem Urteil des Regisseurs, der Kollegen, selbst vor dem der Souffleuse. Bei der Premiere hat man Angst vor dem Publikum und vor den Kritikern. Wenn die Aufführung erfolgreich war, hat man Angst davor, dass das Stück irgendwann abgesetzt wird und man nie wieder etwas Vergleichbares spielen darf.«
Plötzlich schaute sie von ihren Zeichnungen auf und blickte mir scharf in die Augen: »Bilde dir bloß nicht ein, dass du irgendetwas über mich weißt!«

Fünf Tage vor der Premiere wurde der Schauspieler aus Wien krank. Ich schlug vor, das Stück trotzdem im Ablauf zu spielen und die Szenen mit dem erkrankten Kollegen zu überspringen. Zu meinem Erstaunen bat mich Irene darum, wenigstens in einer für sie entscheidenden Szene für den Wiener Kollegen einzuspringen, damit sie nicht die inneren Entwicklung ihrer Figur unterbrechen müsse. Zögernd willigte ich ein. Obwohl es Jahre her war, dass ich auf einer Bühne gestanden hatte, war ich davon überzeugt, keine Schwierigkeiten damit zu haben. So etwas verlernt man nicht. Aber als ich die Bühne betrat, war ich erstaunt. Die Scheinwerfer blendeten mich so sehr, dass ich Irene kaum erkennen konnte, die vier Schritte von mir entfernt an einem Flügel lehnte. Wie sollte ich zu ihr gelangen? Ich hatte vergessen, welche Kraftanstrengung man aufbringen muss, um nur einen einzigen Schritt auf einer Bühne zu machen. Wie schwer ist es, seinen Arm zu heben, den Kopf zu drehen oder ein paar Worte über die Lippen zu bringen. Sobald ich meinen Mund aufmachte, hörte ich meine Stimme schrill durch den gesamten Bühnenraum hallen. Mein nächster Impuls war, den Text zu verändern. Kein Mensch würde solche Worte sagen. Außerdem würde ich mich niemals so verhalten, wie die Figur in meinem Stück. Irene blickte mich an. »Wie kann man sich nur so in einem Menschen täuschen«, fuhr es mir durch den Kopf, »nie mehr halte ich mir etwas auf meine Menschenkenntnis zu Gute«. Irene, die jede Achtung vor mir verloren hatte, spielte in dieser Szene eine Frau, die einem Mann mit vielen Worten ihrer Liebe versichert, um zu verbergen, dass sie sich längst einem anderen zugewandt hat. Ich, der ich Irene misstraute, spielte einen Mann, der eine Frau demütigt, um nicht zu verraten, wie sehr er sie liebt. Plötzlich dachte ich nicht mehr ans Spielen. Jeder Satz, den Irene zu mir sprach, löste bei mir wie von selbst die passende Antwort aus. Mein Körper reagierte ohne mein Zutun auf jede ihrer Bewegungen. Noch nie habe ich als Schauspieler Momente von derartiger Intensität auf der Bühne erlebt. Irene muss es ähnlich ergangen sein. Nachdem die Szene zu Ende war, wagten wir nicht, uns in die Augen zu sehen, sondern blickten in den Zuschauerraum. Leere Sitzreihen. Weit und breit kein Mensch. Hatten die Kollegen den Saal verlassen, weil ihnen unsere Darstellung die unerhörten Dimensionen vor Augen geführt hatte, die nicht nur mein, sondern jeder Text erreichen kann, wenn er von wirklichen Gefühlen getragen wird? Wir fanden die anderen plaudernd im Foyer vor. Bei unserem Eintreten verstummten alle. Erst die Souffleuse fand den Mut, uns zu erklären, dass wir für diese kleine Szene ein Vielfaches der üblichen Zeit benötigt hätten, ja, wir hätten uns sogar zwischen den einzelnen Sätzen Pausen gestattet, die den Umbaupausen einer Wagneroper in nichts nachstanden, so dass sich die Kollegen entschlossen, die Zeit zu nutzen, um auf die Toilette zu gehen, eine Zigarette zu rauchen oder sich aus der Kantine einen Kaffee zu holen.

Als alle Schauspieler das ersten Mal auf der Bühne im Originallicht und den von Ire­ne entworfenen Kostümen spielten, hatte ich mich in den letzten Zuschauerreihen verkrochen und wagte kaum, auf die Bühne zu blicken. Plötzlich trat ein Bühnenarbeiter zu mir: »Fällt Ihnen an dieser Irene nichts auf?« Mein erster Gedanke war, dass Irene wieder irgendwelche Änderungen an ihrem Kostüm vorgenommen hatte, die zur Kenntnis zu nehmen ich mich in der Zwischenzeit weigerte. Aber es war etwas anderes, das die Aufmerksamkeit des Bühnenarbeiters völlig in Anspruch nahm. Die drei anderen Schauspieler standen neben Irene auf der Bühne und starrten sie mit offenem Mund an, als würden sie kein Wort von dem verstehen, was Irene sagte.

Und tatsächlich. Irene sprach einen völlig neuen Text. Bisher hatte sie nur uner­heb­liche Korrekturen in ihrem Text vorgenommen, aber jetzt hatte sie ihn so­weit ver­än­dert, dass selbst ich ihn nicht mehr erkannte. Schon hatte ich mich von mei­nem Platz erhoben, um bekannt zu geben, dass ich meine Mitwirkung an dieser Aufführung zurückziehe. Aber der Klang von Irenes Stimme ließ mich innehalten. Der gereizt rechtha­ber­­ische Ton war verschwunden. Jedes Wort kam mit einer so umwerfenden Natürlichkeit über ihre Lippen, dass sich keinen Moment der Gedanke aufdrängte, hier würde jemand Thea­ter spielen. Irene hätte machen können, was immer sie ge­wollt hätte, jede Entscheidung wäre richtig gewesen, ja selbst ihr neuer Text er­schien plötzlich als der einzig mögliche, der einzig richtige. Während ich mich noch darüber wunderte, warum die an­de­ren Schauspieler die Probe nicht längst abgebrochen hatten und immer noch weiterspielten, erkannte ich – als letzter von allen –, dass es tat­­sächlich mein eigener Text war, den Irene in einer Art und Weise sprach, wie ich ihn nie zuvor gehört hatte. Sogar die nebensächlichsten und beiläufig hin­ge­schrie­benen Worte vermochte sie mit einem Sinn zu füllen, welche die­se für sich allein be­sehen niemals haben konnten. Neben Irene wirkten die anderen Schauspieler so unauffällig, als hätten sie sich ein­er nach dem anderen leise in den Bühnenhintergrund zu­rück­­gezogen, um ihr aus dem Halbdunkel die Stichworte für einen reibungs­los­en Ablauf der Sze­nen zu­zuflüstern, welche eine nach der anderen unmerklich ihr­en Schwerpunkt ver­änderte, wodurch sich das Gleichgewicht der einzelnen Akte langsam ver­schob, bis das gesamte Stück in eine solche Schräglage rutschte, dass zum Schluss nicht einmal mehr ich sagen konnte, wovon das Stück ei­gent­lich handelte, so ge­lähmt war ich von dem überwältigenden Eindruck einer weit über diesen Büh­nen­raum strahlenden Irene.

Der Vorhang fiel. Keiner sprach ein Wort. Ich war davon überzeugt, dass ein der­artiges Ereignis nicht wiederholbar sei. Irrtum. Bei der Generalprobe am folgenden Tag traf Irenes Darstellung die anderen Schauspieler nicht mehr so unvorbereitet, jetzt waren sie fest entschlossen, ihr nicht kampflos die Bühne zu überlassen. Sie wehrten sich erst einzeln und dann geschlossen, aber es waren gerade ihre Anstren­gungen, die Irenes Spiel noch müheloser erscheinen ließen.

Am Premierenabend war alles verschwunden. Zwischen Irenes Darstellung und der ihrer Kollegen konnte ich keinen Unterschied erkennen. Das Publikum erlebte mehr oder weniger orientierungs­lose Schauspieler, die auf der Bühne ih­ren Text recherchierten und sich an die wenigen Verabredungen zu erinnern versuchten, die wir in den kurzen Augenblic­ken getroffen hatten, in denen wir nicht mit Tierimprovisationen beschäftigt waren. Für einen Moment hatte ich den Verdacht, Irene habe uns allen nur vorführen wollen, zu welcher Leistung sie fähig sei, wenn man die Größe hatte, ihr alle künstlerischen Freiheiten zu lassen. Aber ihre Irritation, mit der sie auf den Verlauf der Premierenvorstellung reagierte, be­wies mir, dass sie selbst genauso wenig wie wir anderen begreifen konnte, was in den letz­ten Ta­gen passiert war und sich in dieser Form nicht wie­der­holen sollte. Die Premiere war alles andere als ein umwerfendes Ereignis. Unser künstlerischer Erfolg be­stand darin, dass wir es geschafft hatten, den Premierentermin nicht platzen zu las­sen.

Seither habe ich mit Irene kein Wort mehr gesprochen. Einige wohlmeinende Freunde verließen plötzlich ihre Deckung und platzen mit ihren wahren Empfindungen heraus: Endlich sei es mir gelungen, Irenes wahren Cha­rak­­ter zu durchschauen, die zwar außerge­wöhn­lich schön anzu­se­hen, aber auch außergewöhnlich dumm sei, und fügten hinzu, dass Irenes Begabung selbst mit dem größten Wohlwollen nur im unteren Mittelfeld einzuordnen sei.

Nach mehreren Monaten zeichneten sich in meinen Bemühungen, unsere Auf­füh­rung und die damit verbundenen Vorgänge zu verdrängen, erste Erfolge ab. Da geschah es, dass mich verschiedene Personen auf die Vorstellung an­spra­chen und sich beeindruckt gaben. Ich habe diese Urteile zunächst für übliche Höf­lich­keiten gehalten, aber als sich diese Reaktionen häuften, besuchte ich heim­lich eine Vorstellung und war überrascht. Gleichermaßen allen Schauspielern war eine größtmögliche Annähe­rung an die Figuren gelungen ohne die eigene Iden­tität aufzugeben – oder viel­leicht war es einfach nur höchste schau­spieler­ische Raffinesse, mit der sie diesen Ein­druck gezielt erweckten. Egal. Ein weiterer Besuch bewies mir, dass es sich nicht um einen bloßen Zufall gehandelt hatte, ob­wohl sich beide Vorstellungen deutlich voneinander unterschieden. Mit einem prä­zisen Gespür für Tempo und Rhyth­mus war es den Schauspielern gelungen, je­der Aufführung einen ganz unver­wechselbaren Charakter zu geben. In allen Au­genblick hellwach reagierten sie mit ungekünstelter Aufmerksamkeit selbst auf die kleinsten Veränderungen im Spiel der anderen, und es war weniger die in der Zwischenzeit gewonnene Si­cher­heit im Spiel miteinander, sondern der Mut, gerade diese Sicherheit immer wieder aufs Spiel zu setzen, den ich be­wun­derte.

Über ein Jahr hatten die Schauspieler das Stück gespielt. Kurz vor der letzten Vorstellung saßen wir gemeinsam im Park neben dem Thea­ter. Es war der erste Frühlingsabend. Trotz des warmen Wetters bildete sich vor der Thea­terkasse eine lange Reihe von Leuten, die um Karten anstanden. Die Schauspieler bedauerten es, nicht noch weitere Vorstellungen spielen zu können. Wir spra­chen über unsere Pläne für die Zukunft und schließlich das erste Mal über die Probenzeit, die uns viel länger als ein Jahr zurückzuliegen schien. Niemand kon­nte mehr nach­vollziehen, wie es zu solchen Szenen hatte kommen können. Wir redet­en ohne Zorn, wälzten Erinnerungen und wettei­ferten schließ­lich darin, uns noch einmal die schlimmsten Momente vor Augen zu füh­ren, bis wir vor Lachen Tränen in den Augen hatten. Nur Irene saß nicht bei uns. Sie hatte sich auf eine Bank unter den Bäumen gesetzt. Ich rechnete es mir als persönli­chen Sieg an, dass es nur meine Ge­genwart war, die sie davon abhielt, die kostba­ren Augenblicke vor der letzten Vorstellung gemeinsam mit ihren Kollegen zu verbringen. Schließ­lich begleitete ich die anderen Schauspieler ins Theater, die sich für die Vor­stel­lung umziehen und schminken mussten. Ich blieb am Büh­neneingang ste­hen und sah mich nach Irene um. Sie saß immer noch unter den Bäumen auf ihrer Bank und trug ein helles Sommerkleid, das ich nie zuvor an ihr ge­sehen hat­­te. Irgendjemand hatte mir erzählt, sie wäre mit einem Beleuchter vom Film zusammen. Ich ha­be keine Ahnung, wie sie über unsere Geschichte denkt. In den Au­­gen­blicken, in denen ich an sie denken muss und immer noch ver­mis­se, ist es mir bisher ein Trost gewesen, mir ein­zureden, es möge ihr ebenso gehen wie mir. Als ich sie allerdings jetzt auf dieser Bank unter den abendlichen Bäu­m­en betrachtete, wirkte sie nicht wie jemand, der wegen Geschichten aus der Vergangenheit bedrückt wäre. Plötzlich blickte sie hoch in den Abend­himmel, erhob sich rasch von der Bank und lief an der langen Zu­schauer­schlange auf den Bühneneingang zu. Ein Platzregen rauschte hernieder. Es war ein richtiger Frühlingsabend.