SCHNAUZE VOLL VOM KRIEG VOR TROJA

homer Kopie

Was wird mit der Ilias von Homer heute assoziiert? Ein endloses Epos in sperrigem Versmaß, das von endlosen Heldenkämpfen mit Schwert und Schild in einem Krieg um Troja handelt. Dazwischen treten mythische Erinnerungsfragmente wie Achillesferse, Kassandra-rufe, die schöne Helena oder das trojanische Pferd.

Mythos heißt so viel wie Erzähltes und beruht auf mündlicher Überlieferung. Der Autor und Schauspieler Ulrich Hub lädt einen begrenzten Personenkreis ein, die Ilias zu erleben. Im Zusammenspiel mit dem Zuhörer erzählt er Homers Epos aus dem Gedächtnis: in eigenen Worten, hohem Tempo und Hexametern. Jeden Abend aufs Neue und immer wieder anders.

Es geht um Krieg, Gewalt und Tod. Die Hauptfiguren Achill und Hektor, durch Zorn und Leidenschaften getrieben, enden zuletzt im Tod – mit dem Bewusstsein der Ausgesetztheit aller Menschen im Leid. Menschen und Götter sind bereit, für den Krieg um eine belagerte Stadt den Tod Tausender in Kauf zu nehmen und greifen zu politischen Erklärungen, um ihre persönlichen Wünsche zu rechtfertigen. Darüber hinaus erzählt die Ilias vom Prototyp des Krieges überhaupt und dem Gegensatz zweier Kulturen: Europa und Asien. Was vor 2800 Jahren das erste Mal erzählt wurde, lebt immer wieder auf und ist noch nicht vergangene Sage geworden.

So wie Homer alle dramaturgischen und stilistischen Möglichkeiten seiner Zeit durchgespielt hat, lässt Hub moderne Erzählweisen einfließen: Anlehnung an Drama, Film und Comic treten in direkte Verbindung mit den Mythen, die – über Gegenwart und Vergangenheit und alle Erzählweisen hinausgreifend – unvergänglich sind, auch wenn Nike für uns in erster Linie ein Turnschuh und Poseidon der Name des griechischen Restaurants an der Ecke ist.

»Und wenn ich mir vorstelle ich bin Soldat auf dem Schlachtfeld vor Troja wahrscheinlich ein ganz niedriger Dienstgrad und irgend so ein Arsch rammt mir von hinten seinen Speer in den Schädel und im Augenblick meines Todes wenn ich spüre wie der Speer meinen Schädelknochen zertrümmert meine Zunge zerschneidet meine Zähne zerschmettert und ich sehe die Spitze des Speers vorne zu meinem weit aufgerissenen Mund wieder heraus kommen und wenn ich in diesem Augenblick weiß dass ich nach meinem Tod da draußen liegen bleiben muss vermutlich nackt denn mein Mörder wird mir bestimmt noch meine Rüstung klauen und nachts kommen die Hunde reißen mir das Fleisch von den Knochen und im Morgengrauen picken irgendwelche Vögel an mir herum und was von mir übrig bleibt darin machen sich Würmern breit und Maden also wenn ich mir all das vor Augen halte kann ich das Bedürfnis der Menschen vor zweitausendachthundert Jahren nach einem anständigen Begräbnis sehr gut nachvollziehen im trojanischen Krieg werden Arme abgehackt Bäuche aufgeschlitzt Köpfe fliegen über das Schlachtfeld wie Fußbälle aber ich will heute Abend nicht vom trojanischen Krieg erzählen denn Homer erzählt nicht wie ich immer gedacht habe von Krieg um Troja sondern vom Zorn und zwar vom Zorn des Achill …«


WAS ANDERE SAGEN:
Was haben die Menschen eigentlich früher gemacht, wenn die Arbeit des Tages getan war und kein Fernseher ihnen die Zeit bis zum Schlafengehen verkürzt hat? Sie haben sich Geschichten erzählt. Diese sehr sehr alte Tradition nimmt Ulrich Hub auf und erzählt eine der ältesten Geschichten der Menschheit nach. Nicht etwa abgelesen und einstudiert, nein, frei nach Schnauze, aus einem riesigen Fundus schöpfend, der Situation und den Zuhörern entsprechend. So entsteht der Mythos, das Erzählte, Abend für Abend neu.

Wir sitzen an einem Tisch, an dessen Kopfende der Erzähler thront. Wein und Wasser stehen bereit und auch Aschenbecher. Gebannt hängen die Zuhörer an den Lippen des 1963 geborenen Schauspielers, der im deutschen Theaterwesen hauptsächlich als Autor bekannt ist („Die Beleidigten“, „Imago“ u.a.). Souverän wechselt er zwischen Hexametern und Alltagssprache, variiert Rhythmen und Formen der Erzählung, findet große Bögen und hat Lust am Detail, erinnert uns hier und da an lange vergessene griechische Göttergeschichten und führt so durch einen ungemein spannenden und bildhaften Abend. Immer steht die Erzählung im Vordergrund, ganz uneitel hält sich der Erzähler zugunsten der Geschichte bedeckt und wirkt auf diese Weise umso sympathischer. Dass der Aufdruck auf seinem T-Shirt nicht nur Werbung für einen weltweit operierenden Sport- und Fashion-Konzern ist, sondern auch auf eine griechische Göttin verweist, ist Ausdruck einer auch in der Art des Vortrags zu findenden feinen Ironie. Nie aber macht er sich lustig und so entstehen auch berührende Momente, die die Grausamkeit und die Tragik des Krieges vermitteln. Mit sicherem Gespür für die jeweils adäquate Stimmung vergeht die Zeit im Fluge und nach zwei reichhaltigen Stunden (eine Pause) bedanken sich die Zuhörer bei Ulrich Hub mit großem Applaus für einen ungemein gelungenen Abend.

Theaterdiscounter Berlin, 10. September 2005
Kultur-Extra/Sven Lange 10.09.05