DAS LETZTE SCHAF

Was ist das nur für ein helles Licht, das die Schafe inmitten einer Winternacht aus dem Schlaf reißt? Und wo sind eigentlich ihre Hirten geblieben? Wurden sie vielleicht von einem Ufo entführt? Oder hat das Ganze etwa mit diesem Mädchen zu tun, das in einem nahegelegenen Stall geboren worden sein soll? Um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen, begeben sich die Schafe auf eine abenteuerliche Nachtwanderung. Doch schon bald haben sie das erste Schaf verloren …

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WAS ICH BISHER ZU DEN SCHAFEN GEFRAGT WURDE

NACH »AN DER ARCHE UM ACHT« HABEN SIE SICH AN EINE NEUINTERPRETATION DER WEIHNACHTSGESCHICHTE GEWAGT. IST IHNEN DENN GAR NICHTS HEILIG?

Alles, was heilig sein soll, ist mir erst einmal suspekt. In meinem Bücherregal steht die Bibel neben Märchen der Brüder Grimm, den griechischen Mythen und den Geschichten aus Tausendundeine Nacht. In all diesen Büchern wimmelt es von großartigen Storys und Figuren, die um eine wichtige Frage kreisen: »Woran glauben? Wem glauben? Und warum eigentlich?« Dass muss natürlich kein Gott sein oder eine Kirche.

UND WORAN GLAUBEN SIE?

Ehrlich gesagt war ich noch nie davon überzeugt, dass Jesus ein Familienangehöriger Gottes sein soll, der das Kreuz mit einem schlichten Wort in einen Blumentopf hätte verwandeln können. Aber gegen seine Message kann es keinerlei Einwände geben. »Seid mal ein bisschen netter zueinander, verzeiht euren Feinden und jeder ist herzlich willkommen – vor allem die Kinder.« Weihnachten selbst finde ich in der Zwischenzeit ein bisschen herunter gekommen, aber die Botschaft ist doch prima: »Habt keine Angst.«

WIE SIND SIE ÜBERHAUPT AUF DIE IDEE GEKOMMEN, DIE GESCHICHTE AUS SICHT DER SCHAFE ZU ERZÄHLEN?

Ich hatte mich immer darüber gewundert, dass die Schafe – Kernbestandteil jeder Weihnachtskrippe – im Neuen Testament überhaupt nicht vorkommen. Den Hirten auf dem nächtlichen Feld wird lediglich ausgerichtet »Ihr werdet das Kind in Windeln gewickelt finden«, und schon machen sie sich auf den Weg. Von einer Krippe ist ebenso wenig die Rede wie von einem Stall. Schon gar nicht von einem Ochsen oder einem Esel. Das Kind könnte also ebenso gut in einem Schuhkarton unter einer Autobahnbrücke liegen.

HATTEN SIE NOCH ANDERE ANREGUNGEN ALS DIE BIBEL?

Im Frühjahr habe ich aus dem unfertigen Manuskript in Berliner Schulen vorgelesen und mich anschließend mit den Kindern unterhalten – diese Erfahrungen haben die Story maßgeblich beeinflusst. Außerdem mag ich das Bild von Pieter Bruegel »Volkszählung in Bethlehem«, auf dem ein flämisches Dorf zu sehen ist. Der Maler zeigt die Reaktion seiner Zeitgenossen auf die Ankunft von Joseph & Maria – die Leute bekommen das Ereignis überhaupt nicht mit, weil sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt sind: Essen, Geld zählen und Schneeballschlachten. Wenn uns diese Geschichte überhaupt noch etwas sagen soll, muss sie zu allen Zeiten spielen können.

WAS SOLL UNS DENN IHRE GESCHICHTE SAGEN?

Erst einmal sollen sich die Kinder unterhalten. Eine Tatsache ist allerdings, dass die Schafe ohne Angst einfach losmarschiert sind, aber das eigentliche Ereignis haben sie leider verpasst – weil sie eben immer aufeinander gewartet und sogar den letzten unter ihnen mitgenommen haben. Das wird in letzter Zeit immer weniger selbstverständlich.

WIESO DENKEN DIE SCHAFE, DAS NEUGEBORENE KIND SEI EIN MÄDCHEN?

Ist es nicht auffallend, dass in unserem Kulturkreis alle Erlöserfiguren männlich sind? Sogar unter den modernen Superhelden gibt es kaum Frauen. Auch die Schafe fragen sich, warum das eigentlich so ist. In der Theaterfassung wird die Frage, ob Mädchen schlauer sind als Jungs, noch viel ausführlicher diskutiert – dabei kommt es im Zuschauerraum zu regelrechten Tumulten. Als neulich in einer Aufführung ein Schaf sagte: »Mädchen sind doch nicht in der Lage, die Welt zu retten. Dazu sind sie viel zu –« rief ein Kind laut dazwischen: »Pass bloß auf, was du jetzt sagst!«

WARUM HABEN DIE SCHAFE EIGENTLICH KEINE NAMEN?

Sie haben doch Namen – das Schaf mit dem Seitenscheitel, das mit der Mütze, das mit der Zahnspange und so weiter. Hätte ich den Figuren »richtige« Namen gegeben, wäre damit eine Geschlechtszugehörigkeit unausweichlich. So dürfen die Kinder selbst entscheiden, bei welchem Schaf es sich um ein Mädchen handelt und bei welchem um einen Jungen. Nach meiner Erfahrung bei Lesungen liegen die Meinungen da weit auseinander – und das ist prima so.

WIE SIEHT DIE ZUSAMMENARBEIT MIT DEM ILLUSTRATOR JÖRG MÜHLE AUS?

Er bekommt regelmäßig die ersten Textentwürfe von mir und fängt erst einmal an zu zeichnen. Jörg Mühles Figuren sind eine ideale Mischung aus Herzallerliebst und totaler Anarchie. Bei meinem letzten Besuch in Frankfurt durfte ich in sein Skizzenbuch schauen – darin waren mindestens fünfhundert verschiedene Schafstypen. Man könnte alle Zeichnungen im Museum ausstellen! Ich durfte mir die schönsten Schafe aussuchen.

NOCH EIN LETZTES WORT ZUM LETZTEN SCHAF.

Was soll man dazu sagen? Das letzte Schaf ist ganz offensichtlich ein Außenseiter und hat keine Freunde. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass seine Bemerkungen nie besonders konstruktiv sind – eigentlich ist es ein ziemlicher Stinkstiefel. Aus verletzter Eitelkeit entscheidet es sich irgendwann dazu, an nichts mehr zu glauben als den eigenen Verstand. Kein Wunder, dass es sofort in eine lebensbedrohliche Situation mit Wölfen gerät.

MÖGEN SIE IHRE TITELFIGUR ÜBERHAUPT?

Das letzte Schaf kommt mir ein bisschen wie Petrus vor – eines dessen Hauptattribute übrigens der Felsen ist. Unter hohen Druck gesetzt verleugnet es das Kind und verrät es sogar. Trotzdem wird ihm am Ende von seinen Freunden verziehen. Was keines der Schafe weiß: Durch ein glückliches Missverständnis hat das letzte Schaf das neugeborene Kind gerettet. Im Nachhinein war es also von entscheidender Bedeutung, dass jemand die Gruppe verlassen hat. Nicht zuletzt setzt die Titelfigur das Gerücht in die Welt, dass die Schafe von Anfang an dabei gewesen sind. Mit Erfolg –  wie wir heute wissen. Aber das hört sich alles schon zu sehr nach Konzept an.

WAS IST SO SCHLECHT AN EINEM KONZEPT?

Ein Konzept kommt immer erst zum Schluss. Wenn die Geschichte fertig ist.