Imago
ER und SIE begegnen einander in fünf Szenen, an einem Ort, der traditionell nicht so sehr dem Vollzug der Liebe als dem ausführlichem Reden darüber dient: in der Küche. ER, vermutlich ein Schriftsteller, ist verheiratet und kümmert sich um die fünfjährige Tochter Paula und den Haushalt. Die tödlichen Details des Alltags drohen das gegenseitige Begehren in dieser Ehe zu ersticken. Mit seiner Besucherin spricht ER über seine Frau und deren unglaubliche erotische Eskapaden mit fremden Männern, die ER angeblich heimlich fotografiert hat. Unter der Maske freundschaftlicher Zuwendung erörtern sie brutal, rachsüchtig und intelligent die Einzelheiten der Liebe und der Liebesenttäuschung. Jeder Satz ein Einsatz im erotischen Pokerspiel. Gleichzeitig wächst zwischen dem Paar die aktuelle erotische Spannung. Ein Vexierspiel mit den Bildern, die sich in eine Liebe einschleichen können.
AUSZUG
1. AKT
ER Kommt dir die Person auf diesen Bildern bekannt vor?
SIE Woher hast du diese Bilder?
ER Schau sie dir ruhig genauer an.
SIE So etwas interessiert mich nicht.
ER Noch einen Schluck Wein?
SIE Wer hat diese Bilder gemacht?
ER Ich war genauso überrascht wie du. Selbst jetzt muss ich immer noch einen Blick darauf werfen, um mich davon zu überzeugen, nicht geträumt zu haben.
SIE Vielleicht besitzt sie von dir ähnliche Bilder.
ER Völlig ausgeschlossen. Selbst wenn sie mich auf Schritt und Tritt verfolgen würde, könnte sie von mir keine einzige interessante Aufnahme machen. Warum lachst du? Ich bin nämlich den ganzen Tag auf Kinderspielplätzen. Obwohl selbst ein harmloser Kinderspielplatz kein sicherer Ort für einen Mann ist, der dort täglich mit seiner Tochter auftaucht. Es gibt kaum eine Mutter, die ihn nicht in ein scheinbar harmloses Gespräch verwickelt, wobei deren Absichten nur all zu klar sind. Selbst einige nicht unattraktive Großmütter vernachlässigen auf geradezu sträfliche Weise die Aufsichtspflicht gegenüber den ihnen anvertrauten Enkelkindern, um mir Vorschläge zu unterbreiten, bei denen ich nur noch beschämt in den Sandkasten starren kann. Trotz einer verwirrenden Vielzahl von Angeboten bin ich der Versuchung bisher noch nie erlegen.
SIE Willst du jetzt einen Orden?
ER Schau dir diese Bilder ruhig noch einmal an.
SIE Vielleicht bist du nicht ganz unschuldig an ihrem Verhalten.
ER Wirf einmal ein Blick auf dieses Bild.
SIE Vielleicht will sie prüfen, ob sie noch begehrenswert ist.
ER Sieh dir diese Bilder lieber noch einmal genauer an.
SIE Ich habe genug gesehen.
ER Es sind verschiedene Männer auf diesen Bildern.
Er legt ihr mehrere Bilder vor.
SIE Oh.
Sie schaut das nächste Bild an.
ER Hier siehst du eine Frau, die normalerweise so leise spricht, dass man die Ohren spitzen muss. Eine Frau, die alles Vulgäre, Spektakuläre hasst. Ebenso wie laute Farben. Eine Frau, die im Garten nur weiße Blumen duldet. Die roten reißt sie aus.
SIE Wenn ich nicht wissen würde, dass sie die Frau auf den Bildern ist, ich würde sie nicht erkennen.
Er räumt den Tisch ab.
ER Sonst duldet sie in ihrer Gegenwart kein schmutziges Wort. Kein dreckiges Lachen. Nicht einmal ich darf eine nette Bemerkung über ihren Hintern machen.
Sie schaut das nächste Bild an.
SIE Hier kann ich nichts erkennen.
ER Du hältst es verkehrt herum.
SIE Ach so.
ER Schwer vorstellbar, dass die Frau auf diesem Bild es sonst ablehnt, Krebse zu essen oder geschmorte Rippchen, weil dabei ihre Finger glitschig werden?
Sie schaut das nächste Bild an.
SIE So etwas macht sie also auch. Aha.
Er räumt den Tisch ab.
ER Wenn ich sie früher um die eine oder andere Gefälligkeit gebeten habe, die ein wenig aus dem Rahmen fiel, hat sie gleich ein Gesicht gemacht.
SIE Hier macht sie auch ein Gesicht.
ER Aber ein anderes.
Sie schaut das nächste Bild an.
ER Wenn ich sie jetzt beobachte, wie sie an Paulas Bett sitzt und ihr einen Gutenachtkuss auf die Stirn drückt, muss ich mich zurückhalten, um ihr nicht das Kind aus den Armen zu reißen.
SIE Ich kann kein Muster erkennen, nach denen sie diese Männer auswählt.
Er räumt den Tisch ab.
ER Ich frage mich manchmal, was im Kopf von so einer Frau vor sich geht, wenn sie mich ansieht.
SIE Ihr Gesichtsausdruck auf diesen Bildern drückt alles mögliche aus, aber von Liebe sehe ich keine Spur. Vielleicht haben sich ihre Gefühle für dich nicht geändert. Sie wird kein emotionales Problem haben, sondern in erster Linie ein organisatorisches. Sie muss Familie, Beruf und die Befriedigung derartiger Wünschen unter einen Hut bringen. Solch ein Leben zu führen, erfordert ein Höchstmaß an Disziplin und Organisation.
ER Wohlgemerkt, hierbei handelt es sich nur um Aufnahmen von Situationen, in denen ich fotografieren konnte. Wie oft stehe ich vor heruntergelassenen Rouleaus, verschlossenen Hotelzimmern, oder es ist einfach zu dunkel.
SIE Du hast diese Bilder gemacht?
ER Ja.
SIE Du?
ER Ja.
SIE Du?
ER Schrei nicht so.