Colour your emotions
Beitrag für das Programmheft »Die Beleidigten«, Maxim Gorki Theater, Berlin 1999
Standortbestimmung zeitgenössischer Dramatik in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung junger unbekannter Autoren
Nachdem ich in den Berufen Schauspieler und Kellner gescheitert war, fasste ich den Entschluss, den Rest meines Lebens damit zu verbringen, Theaterstücke zu schreiben. Zunächst beschäftigte ich mich mit der Geschichte des Dramas, um ein paar Anregungen zu erhalten. Von meinen Erfahrungen will ich im Folgenden berichten, damit auch andere junge unbekannte Autoren davon profitieren können.
Ich beginne mit den Anfängen des Theaters, und dann überspringe ich ein bisschen was. Seit im antiken Theater ein berauschter Priester aus dem als Ziegenböcke verkleideten Chor heraustrat und Wein für sich ganz allein verlangte, hat nichts mehr so nachhaltig das Theater beeinflusst wie die Erfindung des Kinos. Der Hauptunterschied zwischen diesen beiden Abendunterhaltungen besteht darin, dass im Kino geschossen und im Theater gesprochen wird. Also, da haben wir es ja schon: Sprache ist die Trumpfkarte, die der Dramatiker in den Händen hält.
Sprache
Zunächst musste ich eine eigene unverwechselbare Sprache finden. Nichts lag näher, als mein eigenes unverwechselbares Sprechen zum Vorbild zu nehmen. Ich schrieb einfach so, wie mir der Schnabel gewachsen war; das ging ziemlich flott, ich füllte Blatt um Blatt, prima, das Stück war fertig. Leider in einer optisch wenig ansprechenden Form. Um dem abzuhelfen, übernahm ich ein Mittel, das mir schon bei anderen Autoren aufgefallen war. Nämlich den Zeilensprung. Mein Text sah schon gleich viel besser aus,
Denn
Das Auge
Liest
Schließlich auch
Mit.
Aber würde man mir nicht unterstellen, mit dieser Methode lediglich meine Unfähigkeit, gute Dialoge zu schreiben, vertuschen zu wollen? Ohne lange nachzudenken, entschied ich mich dafür, aus der umfangreichen Textmasse etwas anderes zu erschaffen. Etwas, von dem ich gehört hatte, dass man es monolithische Sprachblöcke nennt. Was so kompliziert aussah, erwies sich nach einigem Hin- und Herprobieren als kinderleicht. Ich musste mir einfach nur vorstellen, ich würde ein Telegramm schreiben. Fertig. Aus. Zum Schluss ließ ich alle Füllwörter und einige für das Verständnis des Textes entscheidende Verben und Substantive weg. Probeweise ließ ich sogar den Kopf einer politischen Figur zwischen den Textblöcken hervorschauen. Sieh an! Da hielt ich gar ein politisches Lehrstück in den Händen. Mit einem Mal wirkte mein Text so verschlüsselt, unendlich kompliziert und entzog sich jeglichem Verständnis – selbst meinem eigenen. Umso besser! Was die Leute nicht auf Anhieb verstehen, wagen sie nicht, so hart zu kritisieren. Selbstverständlich habe ich mit dieser Methode kein so eindrucksvoll großes graues Stück herausbekommen wie der Autor, den ich hier kopierte. Sondern nur ein kleines graues Stück. Aber immerhin: Ein Stück. Mein kleines graues Stück habe ich so lange an verschiedene Verlage geschickt und von diesen wieder zurückgeschickt bekommen, bis es schließlich aus der Mode gekommen war.
Was nun? Allmählich wurde für mich als jungen Dramatiker die Zeit beunruhigend knapp. Trotzdem riskierte ich es, einen Umweg in Kauf zu nehmen.
Figuren
Ich habe einen halben Vormittag meine Mutter beobachtet. Wenn sie mit einer Kalaschnikow in der Küche herumballert, dachte ich mir, kann ich das genau so auf die Bühne bringen. Meine Mutter stand wie immer am Herd und erkundigte sich nach meinen Fortschritten als Dramatiker. Ich habe sie trotzdem mit einer Kalaschnikow auf die Bühne gebracht. Das wurde eine Farce. Ich habe sehr gelacht. Bis mir ein schrecklicher Verdacht kam: Vielleicht wünscht sich meine Mutter statt einer Schnitzelpfanne tatsächlich eine Kalaschnikow, um sie auf ihren schreibenden Sohn zu richten. Unter den zärtlichsten Worten und gefühlvollsten Gesten werden bekanntlich die fürchterlichsten Mordphantasien versteckt. Je näher man einen Menschen kennen lernt, desto mehr muss man feststellen, wie wenig man ihn in Wirklichkeit kennt. Nicht nur die Motive meiner Mutter, sondern auch die aller anderen Menschen, sind selten ganz zu durchschauen. Manchmal versteht man nicht einmal seine eigenen Handlungen.
Nur auf der Bühne versteht man so oft zu viel. Die Schauspieler schlüpfen in ihre Rollen und erklären sie dem Zuschauer. Ich will aber, dass die Schauspieler bis zum Schluss ihre Rollen nicht ganz verstehen. So wie sie sich selbst nie ganz verstehen können. Dazu verlange ich, dass man den Schauspielern gefälligst die Freiheit lässt, die Figuren und deren Motive so oder auch ganz anders auszulegen. Was ich selbst über meine Figuren denke, ist dabei vollkommen unwichtig. Ein norwegischer Autor hat auf die Frage einer Zuschauerin, ob denn der Tischler das Kinderheim angezündet hat, geantwortet: »Zuzutrauen wär’s dem Schweinehund schon!« Dieser Autor ist schon fast hundert Jahre tot und hat nur psychologische Figuren geschrieben. Darf man heute überhaupt noch sowas auftreten lassen? Immerhin hat sich die menschliche Seele seither nichts zündend Neues mehr einfallen lassen, um irgendwie interessant zu bleiben.
Zurück zur Sprache. Mir schwebte eine Art Kunstsprache vor, Mittel und Handgriffe dürften unter keinen Umständen hervortreten. Das Sprechen müsste unmittelbar erscheinen, und die Spuren jeglicher Mühe ausgelöscht werden. Dazu bräuchte es so etwas wie eine Art Technik, mutmaßte ich, die darin bestehen müsste, gerade diese Technik nicht hervortreten zu lassen. Eine scheinbar natürliche Sprache, die nicht die Wahrheit der Figuren offenbart, sondern im Gegenteil von den Figuren selbst als Mittel eingesetzt wird, um alle anderen – nicht zuletzt sich selbst – über ihre wahren Motive hinwegzutäuschen. Ich würde das eine Dramaturgie der Unaufrichtigkeiten nennen, der versehentlichen Wahrheiten.
Thema
Ich habe Aufführungen erlebt, in denen ich bis zum Schlussapplaus fest geglaubt habe, die Schauspieler würden vollkommen mit ihren Rollen übereinstimmen. Selbstverständlich habe ich hinterher alles abgestritten, um nicht der Sentimentalität beschuldigt und überführt und verurteilt zu werden. Trotz einer Menge eindrucksvoller Sterbeszenen in der Theaterliteratur habe ich den Tod auf der Bühne jedoch noch nie geglaubt. Dabei ist der Tod ein Thema, das durchaus auf die Bühne gehört. Ja, der Tod ist sogar eines der besten Themen für die Bühne. Schon was sich aus dem Gegensatz Leben und Tod für dramatische Funken schlagen lassen! Aber die Toten auf der Bühne sind nie glaubwürdig. Weg mit den Toten von der Bühne. Schafft sie wieder hinter den Vorhang. Ich kenne nur einen einzigen Toten auf der Bühne, den ich restlos überzeugend finde: An seiner Seite schluchzt seine Tochter und jubelt seine Ehefrau. Plötzlich schlägt der Tote seine Augen auf. Er hatte seinen Tod nur gespielt, um sich über die Gefühle seiner Familienmitglieder Gewissheit zu verschaffen. Wie die Lebenden oder Überlebenden auf Tod und Sterben reagieren, wie sie mit dem nicht zu Verstehenden umgehen, das interessiert mich viel mehr – weil ich das nämlich selbst auch nicht verstehe.
Über welche Themen soll man heute schreiben? Tod hatten wir schon. Welche Grausamkeiten bieten sich sonst noch an? Jede Menge, man muss sich nur umsehen. Aber manchmal denke ich, die einfache Tatsache, dass man sich gegenseitig einfach nicht mehr zuhört, kann unerhört grausam sein. Ja. Ich will lieber eine Grausamkeit auf der Bühne sehen, die ganz leise daherkommt. Mit einem freundlichen Gesicht möglicherweise. Und einem Witz auf den Lippen. So erlebe ich sie selbst. Wenn Sie wollen, schreibe ich Ihnen ganz schnell eine Handvoll Stücke über spießige Leute. Das kommt gut an. Dumme Figuren schreiben sich ganz von alleine. Und Sie werden Sie ordentlich was zu Lachen bekommen. Will ich aber nicht.
Form
Soll der Zuschauer etwa nicht lachen? Doch. Bitte schön. Sogar sehr gerne. Sie dürfen lachen, wann und wo immer Sie wollen. Ich werde mir kein Urteil darüber anmaßen, ob sich der Zuschauer richtig oder falsch amüsiert hat. Aber ganz leicht will ich es Ihnen doch nicht machen. Sie sollen nicht über etwas lachen, das sie schon längst kennen. Ich will, dass Sie über etwas lachen, das Sie nicht so gut kennen. Jedenfalls nicht so gut, wie Sie bisher geglaubt haben. Nämlich über sich selbst. Ich würde mir wünschen, dass Sie auf der Bühne Sätze hören, die Sie selbst schon gesagt haben. Und das plötzlich bedauern. Vielleicht darüber wieder lachen. Ein französischer Autor sagte mal: „Jeder Leser ist nur ein Leser seiner selbst. Das Werk eines Schriftstellers ist lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können.“ Das Drama findet im Kopf des Zuschauers statt.
In jedem Kopf ein anderes. Kein Theatertext ist ein Kunstwerk. Jedenfalls kein Kunstwerk für sich allein. Ich will nicht meine eigene Vorstellung umgesetzt sehen. Die kenne ich nämlich schon. Der Theaterautor, der seine Ideen haargenau auf der Bühne wieder erkennen will, hat schon verloren und soll gefälligst Romane schreiben – aber selbst da macht sich der Leser seine eigenen Vorstellungen. Bis ein Theatertext seine Umsetzung auf der Bühne erfährt, werden verschieden farbige Folien über den Text gelegt, den ich mit einem Scheinwerfer vergleichen möchte und – Sie sehen schon, eine originelle Bildsprache ist meine Sache nicht. Aber verweilen wir trotzdem bei diesem Bild, im Augenblick fällt mir kein besseres ein. Über diesen Scheinwerfer werden also verschieden farbige Folien gespannt, die Folie der Schauspieler, die Folie des Regisseurs, die Folie des Bühnenbildners, die Folie des Maskenbildners, die Folie des Requisiteurs und die entscheidenste – die des Zuschauers. Wenn man Pech hat, erhält man zum Schluss eine dicke, schwarze, lichtundurchlässige Scheibe, die alles in vollkommene Dunkelheit taucht. Im Idealfall erhält der Zuschauer eine vielschichtige, verwirrende, manchmal auch enttäuschende Spiegelung der Welt, wie er sie täglich erlebt.
Dramaturgen
Ein Autor aus der Schweiz hat vorgeschlagen, die Dramaturgen in extra für sie angefertigte, hellblaue Fräcke mit großen, silbernen Knöpfen zu stecken. So können sie an den Abenden, an denen sie ohnehin nichts zu tun haben, den Damen die Mäntel abnehmen, die Herrschaften zu ihren Plätzen führen und gelegentlich Fragen zum Stück beantworten. Die Idee ist bestechend, hat aber einen Nachteil. Wer liest dann noch Stücke? Es ist schon einige Zeit her, da hatte ich ein paar Dramaturgen nach ihren Kriterien für neue Texte befragt. Unumwunden gaben sie zu, dass sie – vor die Wahl zwischen einem neuen deutschsprachigen und einem neuen fremdsprachigen Text gestellt – fast immer zu letzterem greifen. Da war von den klaren Themen dieser Stücke die Rede, den realistischen Figuren, dem gesellschaftlichen Zusammenhang und dem bescheidenen Anspruch, nicht gleich so welthaltig sein zu wollen wie deutschsprachige Texte. Da ist sicher viel Wahres dran. Und der Erfolg mancher Stükke – gerade aus dem englischen Sprachraum – scheint das zu bestätigen. Der einfachste Weg für unsere Theater ist selbstverständlich, diese Stücke, die oft in enger Zusammenarbeit zwischen Autor und Aufführung entwickelt werden, schnell einzukaufen und sie hier aufzuführen. Wobei der geradezu unheimliche Instinkt für Erfolg bemerkenswert ist, mit dem hiesige Theaterleiter ausgerechnet die Stücke einkaufen, die in London oder New York schon seit einem Jahr vor ausverkauftem Haus laufen.
Ich habe damals panikartig reagiert. Zunächst suchte ich mir ein Pseudonym – schon mal was von Trevor Ripp gehört? Dann unterzog ich mein Stück einer kurzen, schmerzlosen Prozedur: Ich habe in meinem Text das Wort UND durch ein anderes ersetzt. Ein Wort, das in den Übersetzungen vieler englischsprachigen Stücke häufig auftaucht. Das Wort FICKEN. Mein Stück war nicht wieder zu erkennen! Entzückt stellte ich fest, dass sogar der Titel knallig und neuartig war. In meiner Begeisterung malte ich mir aus, wie man mit dieser simplen Methode auch ältere, nur wegen ihres drögen Titels in Vergessenheit geratene Stücke wie DIE RUNDKÖPFE UND DIE SPITZKÖPFE einem neuen Publikum erschließen könnte. Ganz unerwartet tauchte letztes Jahr mein Stücktitel sogar auf verschiedenen Spielplänen auf – bis ich erkannte, dass es sich gar nicht um mein eigenes Stück handelte. Ich habe alles wieder rückgängig gemacht. Was nämlich ein einziges Mal wirklich überzeugend funktioniert hat, würde bestimmt kein weiteres Mal ebenso überzeugen.
Aufführungschancen
Immer wieder hört man, dass nach vier Jahren jeder Regieassistent die Gelegenheit zu einer ersten eigenständigen Inszenierung bekommt, die ihm der Intendant in der letzten Premierenwoche aus der Hand nimmt. An jedem Theater gibt es mindestens eine ältere Schauspielerin, die nur noch als Ensemblesprecherin präsent ist und ab und zu einen Chansonabend gibt. Ich habe keine Lust, ein Stück zu schreiben, damit diese Schauspielerin ruhig gestellt werden und der Assistent ein Stück inszenieren kann, das ihm womöglich nicht gefällt. Um meine Aufführungschancen zu erhöhen, will ich nicht schon auf das Deckblatt meines Stückes 1 D – 2 H – 1 Deko schreiben.
Ich vermute mal, dass kein Schauspieler nur darum Schauspieler geworden ist, weil er sich nichts brennender wünschte, als in einem Stück von Ulrich Hub eine Rolle zu übernehmen. Die Schauspieler wollen Polly, Kostja, Posa, Hedda, Hamlet spielen, Valerie und Eboli, Leonce und Lena, Jean oder Julie. Oder Marlon Brando in Endstation Sehnsucht. Das ist doch völlig klar. Kein Grund beleidigt zu sein. Wir sollten den Schauspielern aber Rollen in unseren Stücken schreiben, die sie nicht nur unter der Bedingung spielen, wenn ihnen die Theaterleitung danach als Ausgleich eine von den oben genannten in Aussicht stellt. Denn Sie spielen es schließlich. Jeden Abend. Wenn wir Glück haben.
Danksagung
Oft wird man als Autor gefragt: „Und wovon leben Sie eigentlich so?“ Haben Sie denn keine Vorstellung davon, wie beleidigend so eine Frage ist? Wissen Sie nicht, dass ein Teil der Abendeinnahmen für den Autor abgezwackt wird? Von jeder verkauften Eintrittskarte ungefähr fünfhundert Mark. Zum Schluss möchte ich noch ein paar Dankesworte an verschiedene Personen richten: Die Brille wurde freundlicher Weise von dem französischen Autor Marcel Proust zur Verfügung gestellt. Ich bedanke mich bei dem norwegischen Autor Hendrik Ibsen (das war aber leicht!) für den Schweinehund. Bei dem Schweizer Robert Walser (das hätten Sie wohl nicht gedacht) sollten sich die Dramaturgen eigentlich selbst für die schönen neuen Kostüme bedanken. Besonderen Dank schulde ich Margaret Astor für den meinem Text vorangestellten Slogan, den man sich als Autor immer vor Augen halten sollte. Der Mann, der sich seit über dreihundert Jahren auf allen Bühnen der Welt immer wieder für ein paar Momente tot stellte, heißt natürlich Argan und – Moment! Da habe ich doch ganz vergessen, die Aufforderung eines russischen Autor an die Zuschauer zu zitieren: »Schaut, wie ihr lebt!« Und die schönste Schauspielerin auf der ganzen Welt ist Ingrid Bergman. Das gehört nun wirklich nicht hierher, schien mir aber irgendwie wichtig.