Die Beleidigten
DIE BELEIDIGTEN ist ein Kammerspiel für vier Solisten: Ein Streichquartett – zwei Frauen, zwei Männer – probiert für seinen ersten Auftritt. Natürlich läuft bei den ersten Proben noch nichts perfekt, im Gegenteil. Und da die vier nicht nur gemeinsam musizieren, sondern auch durch verwandtschaftliche und freundschaftliche Bande verbunden sind, geraten die Probendiskussionen schnell auf Abwege, gehen die Argumente unter die Gürtellinie. Gleichzeitig bauen die Figuren um sich ein Gespinst aus Lügen auf, betrügen so nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst. Es geht um Eitelkeiten und Empfindlichkeiten – aber als am Ende einer der Musiker sich im Orchestergraben erhängt, ist die Verblüffung groß.
TEXTPROBE:
Erste Szene
Robert, Renate, Marion und Florian legen ihre Bögen aus der Hand und sehen sich an.
ROBERT Zum Glück hat uns niemand gehört.
RENATE Wieso?
FLORIAN Das war alles andere als ein vielversprechender Anfang.
MARION Ich fand uns direkt, frisch und natürlich.
Pause.
ROBERT Wir dürfen uns nicht so schnell entmutigen lassen. Wir haben immerhin noch sieben Proben.
RENATE Sechs, Robert, sechs.
FLORIAN Nur noch sechs? Wir sagen die Museumsinsel ab.
MARION Zwischen dem dritten und vierten Satz müssen sich unsere Instrumente ein bißchen verstimmt haben. Da wurde es wackelig. Intonationsmäßig. Hier muß irgendwo ein Luftzug sein.
FLORIAN Hier zieht es kein bisschen.
RENATE Darf ich einen Vorschlag zur Güte machen?
ROBERT Nein.
RENATE Sobald wir die Instrumente in die Hand genommen haben, vergessen wir einfach alle persönlichen Unstimmigkeiten.
FLORIAN schreit Gut, ich sage nichts mehr zu Marions Intonation! Kein Sterbenswort!
MARION schreit Das verbitte ich mir auch, daß du in meine Musik hineinredest!
ROBERT Siehst du, Marion, diese Einstellung ist schon ein Teil des Problems. Es handelt sich nicht um deine Musik, sondern um unsere Musik. Unsere gemeinsame Musik. Kurz und gut, wir müssen zunächst unsere verschiedenen Ansichten über dieses Quartett in Einklang bringen. Wir sind vier Bildhauer, so müssen wir uns das nämlich vorstellen. Wir bearbeiten denselben Stein von vier verschiedenen Seiten, und betrachten das gemeinsame Werk gleichzeitig, aber aus einer gebührenden Distanz. Und ich habe nach dem ersten Durchspielen den Eindruck, daß wir alle vollkommen unterschiedliche Vorstellungen haben …
RENATE Darf ich einen kleinen Vorschlag machen?
MARION Nein.
RENATE Nämlich die Redezeit während der Proben eng zu begrenzen. Eng, Robert, eng.
ROBERT Je ehrlicher man miteinander redet, desto mehr kommt einem das als Musiker zugute.
MARION Wenn wir wirklich alle sagen würden, was wir denken, dann würde sich unser kleines Streichquartett mit einem bescheidenen Puff in Luft auflösen.
ROBERT Es ist heikel, die richtige Balance zwischen unseren unterschiedlichen Ausdrucksformen zu finden. Es geht nicht nur um einen schönen Klang, es muß auch etwas dahinter stecken. Die Musik schwingt nicht, sie kommt nicht zum Klingen …
RENATE Fuchtel bitte nicht immer mit deinem Bogen vor meinem Gesicht herum. Robert, das macht mich wahnsinnig, wenn du immer mit deinem Bogen herumstocherst. Merkst du das denn nicht? Immer stocherst du in der Luft herum. Direkt vor meinem Gesicht. Verstehst du, was ich meine?
ROBERT Willst du mir vielleicht sagen, daß ich mit meinem Bogen vor deinem Gesicht herumstochere?
RENATE Du stichst mir noch ein Auge aus!
MARION Ich muß frische Luft schnappen.
ROBERT Draußen schneit es bestimmt noch.
RENATE Ich komme mit.
FLORIAN Wir machen am besten eine Pause.
ROBERT Ihr holt euch nur eine Erkältung.
Marion und Renate gehen ab.
ROBERT Irgendwann einmal erwürge ich sie mit einer Darmsaite.
FLORIAN Für diesen Zweck würde ich sogar eine von meinen opfern.
ROBERT Hast du schon einmal in ihren Noten geblättert? Dort wimmelt es von Notizen und kleinen Zeichen, die sie an den Rand geschrieben hat. Für sie ist Perfektion das höchste der Gefühle. Öffnet eine Bierdose. Seele, dieser Begriff ist ihr völlig fremd. Ich würde ihr am liebsten ihre dämliche Bratsche um die Ohren schlagen.
FLORIAN Ach so.
ROBERT Was?
FLORIAN Nichts.
ROBERT Auch ein Bier?
FLORIAN In der Probe?
ROBERT Die plappern draußen sicher Ewigkeiten.
FLORIAN Ich dachte eben, du redest über Marion.
ROBERT Wenn Renate diese Dose in meiner Hand sieht, wird sie eine Augenbraue hochziehen und im Brustton der Empörung sagen: »Gab es da nicht eine Abmachung?« Ich kenne sie bis auf den Grund. Jeden ihrer Gedanken kann ich dir voraussagen. Jeden einzelnen. Manchmal marschiere ich in ihren Gehirnwindungen herum und öffne eine Hirnkammer nach der anderen. Auf der verzweifelten Suche nach Überraschungen. Überall schaue ich kurz hinein und sage dann: »Kenne ich schon, kenne ich schon, vielen Dank, kenne ich alles schon.«
FLORIAN Ich frage mich oft, wie es ihr gelingt, derartige Töne auf ihrer Bratsche zu spielen. Erlesen schön.
ROBERT Spitz lieber deine Ohren, dann wirst du feststellen, daß diese Schönheit leblos ist, eintönig, kühl wie Glas. Das wundert mich übrigens, daß selbst du dich von ihren Tönen einlullen läßt. Gestern nacht lag ich stundenlang neben ihr wach und habe mir die entsetzlichsten Dinge ausgedacht, um sie zu quälen. Ich habe ihre ruhigen gleichmäßigen Atemzüge gehört. Dann bin ich fast vor Wut geplatzt, weil mir plötzlich aufgefallen ist, daß i c h derjenige bin, der sich quält, und s i e schläft in aller Seelenruhe.
Pause.
ROBERT Aber vielleicht tut sie nur so, als würde sie schlafen und in Wirklichkeit ist sie ebenfalls hellwach. Und denkt sich ihrerseits grauenhafte Qualen für mich aus.
FLORIAN Das Geheimnis der Liebe, jedenfalls in ihrer idealen Form, besteht darin, daß am Grund immer noch etwas hängenbleiben muß. Wie der Kaffeesatz.
ROBERT Jaja, aber irgendwie macht mich das ein kleines bißchen unruhig, weißt du?
FLORIAN Was?
ROBERT Diese restlos abgewirtschaftete Zweisamkeit.
FLORIAN In meiner Schulzeit hatte ich ein Biologiebuch. Darin gab es eine Reihe verschiedener Bildtafeln: Die Entwicklung vom Affen zum Menschen. Für jedes Entwicklungsstadium ein Bild. Kennst du unseren neuen Cellisten? Er sieht aus wie die letzte Abbildung v o r dem Menschen. Und genau mit diesem Kerl geht Marion ist Bett.
ROBERT Mit diesem Cellisten …
FLORIAN Übrigens läßt mich das kalt.
ROBERT Woher weißt du das?
FLORIAN Völlig kalt.
ROBERT Der Cellist vom zweiten Pult?
Pause.
ROBERT Bist du dir sicher?
FLORIAN Wir haben uns getrennt.
ROBERT Nein.
FLORIAN Doch.
ROBERT Ehrlich?
FLORIAN Ja.
ROBERT Aber wieso weiß ich davon nichts.
FLORIAN Jetzt weißt du es ja.
Pause.
ROBERT Wann?
FLORIAN Gestern nacht.
ROBERT Ich weiß überhaupt nicht, was ich dazu sagen soll …
FLORIAN Du mußt nichts dazu sagen.
ROBERT Wir sind so gut befreundet, wir sehen uns fast täglich, wir spielen im selben Orchester. Wir haben gerade erst dieses Streichquartett gegründet. Das ist unsere erste Probe und du … Die Museumsinsel! Uns bleiben nur noch sieben Proben bis zum Konzert.
FLORIAN Sechs. Mach doch nicht gleich ein Drama daraus, das ist es überhaupt nicht wert.
ROBERT Ich mache kein Drama daraus, ich stelle mir das nur vor.
FLORIAN Die Museumsinsel fällt schon nicht ins Wasser.
ROBERT Und seit wann? Ich meine, seit wann seid ihr nicht mehr…
FLORIAN Das habe ich doch schon gesagt. Seit gestern. Wir hatten eine ganze Nacht lang geredet und geredet und geredet. Im Morgengrauen habe ich ihr einfach eine geknallt. Das hat das Gespräch ziemlich schnell beendet.
ROBERT Das wird immer dramatischer! Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Du hast sie geschlagen?!
FLORIAN Ein ganz neues Gefühl. Wumm. Schlägt mehrmals mit der Hand durch die Luft. Gewalt. Wumm. Wirksamer als alle Worte.
ROBERT Ich bin sprachlos. So kenne ich dich gar nicht. Eigentlich bewundere ich dich. Ich rede immer nur davon, daß ich Renate mit ihrer Bratsche den Schädel zertrümmern will, und du …
FLORIAN Ich habe ihr ja nicht den Schädel zertrümmert.
ROBERT Du redest nicht, du machst es einfach. Das ist schon eine ziemliche Leistung, weißt du? Obwohl man so etwas selbstverständlich nicht laut sagen darf. Aber hier hört uns schließlich niemand. Frauen darf man eigentlich nicht schlagen.
FLORIAN Das hat Marion auch gesagt, und dann war sie weg.
ROBERT Wann?
FLORIAN Mich läßt das kalt.
ROBERT Wann habt ihr euch getrennt?
Pause.
FLORIAN Gestern nacht.
ROBERT Wie dramatisch.
Renate und Marion kommen zurück.
MARION Haltet euch fest.
RENATE Wir haben uns eine Überraschung überlegt.
MARION Wißt ihr, was wir uns ausgedacht haben?
FLORIAN Nein, aber ihr werdet es uns sicher gleich sagen.
RENATE sieht die Bierdosen Ich traue wohl meinen Augen nicht.
MARION Bier!
RENATE Bier?
FLORIAN Bier.
MARION Ich auch.
RENATE In der Probe Bier? Hatten wir diesbezüglich nicht eine kleine Abmachung getroffen?
ROBERT Keine Ahnung.
MARION öffnet eine Bierdose Worüber habt ihr geredet?
FLORIAN Über Musik.
MARION Wir auch.
RENATE Aber anders.
MARION Wir haben uns Gedanken über die Zukunft unseres Streichquartetts gemacht.
RENATE Jetzt kann uns auf der Museumsinsel nichts mehr passieren. Möchtest du es sagen?
MARION Sag du es ruhig.
RENATE Also. Hier ist unser Vorschlag. Hört gut zu. Eigentlich war es mein Einfall, aber Marion war sofort begeistert.
MARION Ganz spontan.
RENATE Wir sollten uns noch einen fünften Partner suchen.
MARION Dann sind wir mehr.
RENATE Wir gründen ein Quintett.
ROBERT Marion, das denkst du nur, daß du spontan bist. Du bist in Wirklichkeit etwas ganz anderes. Ich fürchte, mir fällt kein passenderer Ausdruck ein als dumm. Wir sind ein Quartett, und wir bleiben ein Quartett. Das hat alles seinen Sinn.
MARION Uns ist bisher noch nicht einmal ein Name für dieses Quartett eingefallen.
ROBERT Wir haben schon angefangen zu proben. Und zwar zu viert.
RENATE Mit einem beschämenden Ergebnis.
ROBERT Es hat geklappt wie am Schnürchen.
FLORIAN Es dauert seine Zeit, bis man eine Einheit im Quartett-Spiel erreicht.
ROBERT Aber es waren Ansätze dazu spürbar. Wir müssen nur noch unsere unterschiedlichen Vorstellungen unter einen Hut bringen.
MARION zu Renate Ich werde ihn morgen bei der Orchesterprobe einfach fragen. Rumms, aus, fertig.
ROBERT Ihr habt schon jemanden ins Auge gefaßt?
RENATE Ja, das haben wir doch schon gesagt.
FLORIAN Wen?
RENATE Diesen Cellisten.
MARION Der Cellist vom zweiten Pult. Der neue.
ROBERT Nichts habt ihr davon gesagt.
RENATE Gleich als wir hereingekommen sind.
ROBERT Florian, was sagst du dazu?
FLORIAN Wir sagen die Museumsinsel ab.
ROBERT Ihr wollt, daß dieses Tier mit uns Musik macht?
RENATE Er sieht, wie soll ich sagen, sehr männlich aus. Sogar sehr, sehr männlich.
MARION Knusprig.
RENATE Er ist hochsensibel und vermutlich viel empfindsamer als ihr beide zusammen.
MARION Er spielt in Kreuzgangkonzerten. Regelmäßig.
ROBERT Jemand, der empfindsamer ist als ich und in Kreuzgangkonzerten spielt, ist mir sowieso suspekt.
FLORIAN Er sieht eher aus, als würde er in seiner Freizeit Höhlenbilder malen.
MARION Früher an der Hochschule gab es einen Professor, der konnte mit seinem Schwanz Klavier spielen.
RENATE Marion! Es gibt so viel interessante Literatur für die Be- setzung mit einem zweiten Cello. Wir könnten die Mozart-Quintette spielen.
ROBERT In Mozarts Streichquintetten wird die Bratsche verdoppelt, Renate.
FLORIAN Wahrscheinlich hat er sowieso keine Lust, mit ein paar Versagern Kammermusik zu machen.
ROBERT Du bist doch Versager, Florian. So etwas darfst du nicht einmal laut denken.
MARION Ich frage ihn gleich morgen.
RENATE Ich könnte ihn noch heute abend anrufen.
MARION Prima.
RENATE Wie spät ist es?
ROBERT Nur über meine Leiche! Die Quartettformation ist bündig, unvermischt und in sich rund. Es gibt nichts Befriedigenderes als vier Stimmen. Vier! Kommt eine zusätzliche dazu, führt das zu nichts außer zu Unordnung. Bisher wurde in unserem Quartett jede Regel rücksichtslos verletzt. Keiner hält sich an irgendwelche Verabredungen. Es wird Bier getrunken ohne Ende, man muß sich nur Marion ansehen. Lange Rede, kurzer Sinn …
RENATE Laßt uns das Quartett noch einmal durchspielen.
MARION Du meinst, alles nochmal durchspielen? Alle vier Sätze?
FLORIAN Ja.
MARION Ich weiß nicht, ob ich dazu noch in der Lage bin. Immerhin habe immerhin schon zwei Bier getrunken.
ROBERT Wieso zwei?
RENATE Sie hat auch mein Bier getrunken.
FLORIAN Wer gern viel Bier trinkt, muß auch dafür grade stehen.
MARION Laßt uns am besten gleich anfangen.
FLORIAN Ihr müßt euch trotzdem Mühe geben.
RENATE Ich gebe mir immer Mühe.
ROBERT Und du, Marion, sei ein bißchen netter zu Florian.
MARION Ich bin immer nett zu Florian.
FLORIAN Wer gibt das A?
ROBERT Ich.
Sie nehmen ihre Instrumente in die Hand.
Dunkel.
MONOLOG
RENATE Gut, die Bratsche spielt nicht so viele Melodien wie die erste Geige, allerdings gibt es traumhaft schöne Binnenstimmen, deren Gestaltung nicht weniger Freude bereitet als die der Aussenstimmen. Diese zunächst weniger hörbaren Stimmen sind wichtig für die Empfindsamkeit und Schönheit des gesamten Klangbildes. Mit meiner Bratsche befinde ich mich im Zentrum der Harmonie. Von hier aus kann ich hören und mich daran erfreuen, was sich links und rechts von mir ereignet. Nichts gibt höhere Befriedigung, als um sich herum Klänge in den verschiedensten Lagen zu hören, ihnen zu antworten und sich mit ihnen zu vereinen. Wenn ich meine Haltung zur Musik mit einem einzigen Wort beschreiben sollte, würde ich, ohne mit der Wimper zu zucken, den Begriff Liebe wählen. Wenn ich schon damals geahnt hätte, daß Robert hinter meinem Rücken mit Marion … und ganz ungeniert und höchst vergnügt wahrscheinlich … und hinter Florians Rücken selbstverständlich auch … Weint. Das muß angefangen haben … schon vor unserer ersten Probe. Kaltblütig haben die beide mit uns musiziert. Von der ersten bis zur allerletzten Probe unseres kleinen Streichquartetts. Ins Bett mit meiner Schwester … Gott, wie trivial! Kein Wunder, daß ein Mensch wie Florian an solchen Banalitäten zerbrechen mußte. Man hat ihn gefunden. Im Orchestergraben. Am Morgen vor der Museumsinsel. Warum hat er so wenig Vertrauen gehabt? Wenn wir erst dort aufgetreten wären, es wäre alles anders geworden. Er hätte sein Talent nicht so sehr in Zweifel ziehen dürfen. Je kompromißloser man als Mensch ist, desto mehr kommt einem das als Künstler zugute. Ob ich wohl den Mut zu solch einer heroischen Tat hätte wie Florian? Robert ist ein Feigling, ein erbärmlicher Schwätzer. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen? Er sagt immer »kurz und gut« und dann redet er wahnsinnig lang. Zum Glück muß ich ihn nicht mehr sehen. Wir haben uns getrennt. Ich habe kein Träne vergossen.
Dunkel.